Scharanser Zwischenrufe • Kolumne vom 20. Juni 2020

Demonstrieren, aber wofür? Eine Einladung zum Lebendigsein

Die Leute wollen wieder raus. Die Jungen wollen demonstrieren, die älteren Semester schwurbeln über Schaumküsse mit Schokoguss, tragen ihre Wohlanständigkeit oder ihren Nonkonformismus zu Markte, dass die Empörungswellen nur so herüber- und hinüberschwappen – immer in Erwartung einer nächsten Sau, die schon bald durchs Dorf getrieben wird.

Wir brauchen etwas, worüber wir uns nerven und empören können. Was in dieser Empörung über den Streit um Begriffe gern auf der Strecke bleibt, sind die wirklichen Probleme. So darf man zwar nicht mongoloid sagen, man darf aber die Kinder mit Trisomie 21 bis in den achten Monat abtreiben.

Wir können uns gerne um das Wort Rasse balgen. Es entstand im 16. und 17. Jahrhundert, um die Minderwertigkeit der Afrikaner zu beweisen und die Überlegenheit der Weissen. Leider ist das Wort auch in Antirassismus drin. Die Katze beisst sich in den Schwanz.

Es zählt nur die Tat, die über das Gerede hinausführt. Haben sie schon einmal Menschen getroffen, die aus einem kriegsversehrten Land wie Syrien, Afghanistan oder Libyen kommen? Es gibt sie! In Laax, Cazis, Trimmis oder Seewis. Grade neben dran. Wir könnten ihnen – nach Corona wieder problemlos – einen Besuch abstatten. Wir können sie fragen, wie sie sich fühlen, wie es ihnen geht, wie es um ihre liebsten Verwandten in ihren Ländern steht. Es sind Menschen, wie wir. Sie gehören zu uns, wie wir zu ihnen gehören. Sie sind keine Flüchtlinge, sie sind Menschen auf der Flucht.

Wir glauben doch, dass die Moderne der Höhepunkt der Entwicklung des Homo sapiens sei. Wir glauben doch, dass die Verheissung nach dem Streben nach Glück uns allen angeboren sei. Diesen Traum haben wir in die Köpfe und Gesellschaften rund um den Globus getragen: Emanzipation, Demokratie, Gleichheit. Und Autos, Flatscreens, Fleisch, alles ohne Ende, ohne Grenzen.

Dabei haben wir die Grenzen längst überschritten. Die Erde schlägt zurück, die Vielfalt des Lebendigen verschwindet, die Menschen ganzer Kontinente verarmen. Doch sie wollen auch von diesem Überfluss haben, den sie jeden Tag auf ihren Handys sehen.

Unsere Logik hat monströse Züge. Wir wollen die ganze Welt besitzen, aber die Welt soll gefälligst draussen bleiben. Diese Welt, die wir Natur nennen und unsere Lebensgrundlage. Auch diese Begriffe sind wie Bretter vor unseren Köpfen. Denn sie zeigen, dass wir die Erde und ihre Wesen als unser Eigentum betrachten. Dabei gehören sie sich selbst. Das können wir bei einem einfachen Waldspaziergang erfahren. Diese Erfahrung ist erst einmal ein Schock. In ihr aber liegt auch Trost. Denn sie lässt uns zur Lebendigkeit vorstossen.

Das Leben ist mehr als organisches Material. Das Leben ist ungestümes Werden und Vergehen. In uns stirbt und wird das Leben unablässig. In uns kommen und gehen jeden Tag Millionen von Zellen, ohne Recyclinggebühren, cradle to cradle. Das Leben ist ein lebendiger Kreis, in dem auch der Tod aufgehoben ist, die Verwandlung, die Metamorphose.

Darin sind wir uns alle gleich, die Bienen und die Elefanten, die Wolken und die Meeresströme, die Sardinen und die Bergspitzen, die weissen Menschen und die dunklen Menschen. Dieses Lebendigsein kann weder gekauft noch verkauft werden, es gehört allen und alle gehören ihm.

Ich möchte mich von den toten Streitereien um leere Begriffshülsen dem Lebendigen zuwenden. Alles andere ist vertane Zeit!

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