Scharanser Zwischenrufe • Kolumne vom 20. März 2020

Ein Gedicht geht viral: Über die Chancen der Pandemie Kopie

Ein Gedicht geht viral. Die Autorin ist weder auf Wikipedia noch irgendwo sonst im Netz zu finden, ausser als Autorin eben dieses Gedichtes. Pseudonym, anonym, ohne das Kind beim Namen zu nennen, nennt das Gedicht die Wege, die uns bleiben, uns, die wir zu Hause bleiben sollen, weil da draussen etwas abgeht, das wir so schon lange nicht mehr erlebt haben.

Noch gibt es Abwinker, Leugner, Verschwörungsgewisse, halt diejenigen, die es schon immer wussten. Je mehr aber ein Minimum an Mathematik ins Bewusstsein von uns allen dringt, eine Vorstellung von exponentiellem Wachstum, ausgelöst durch einen Bericht eines Arztes aus den Seuchenorten, ein Blick in die 14 Seiten Todesanzeigen der Stadt Bergamo, der verzweifelte Aufruf des Chefarztes eines betroffenen Spitals …

Je mehr auch unser Herz mitfühlt, wir für die Bedrängten einstehen lernen, für die Oma oder den Mukoviszidose-Patienten zu Hause bleiben, weil wir die logarithmische Kurve herunterbiegen, den Diagrammberg zu einem Hügel machen wollen.

Umso mehr schaffen wir es vielleicht auch, unser Leben anzuschauen, unseren Burn-out-Modus zu reflektieren. Unser wirkliches Unheil zu durchschauen.

Der Ausstieg aus dem Hamsterrad muss nicht unbedingt Einstieg in Hamsterkäufe oder anderen Beschäftigungs-Stress sein. Vielleicht erreicht uns dieses Gedicht und wir atmen durch, erfahren einmal ganz elementar, dass wir ein Teil dieser wunderbaren Erde sind, aus und ein, aus und ein. Dass wir Teil sind des Werdens, Seins und Vergehens, gemeinsam mit allen Wesen dieser Erde, dass wir Wasser, Luft und Feuer sind – und Viren.

Verzeiht mir den Exkurs: Die Hälfte in unserem Erbgut besteht aus mehr oder weniger verstümmelten Virengenen, die man heute noch nachweisen kann. Einige sind hundert Millionen Jahre alt. Darum bleib ich auch ganz gerne mal zu Hause, denn mit dem ewigen Hände Desinfizieren gehen gleich noch Millionen guter Bakterien und Viren kaputt. Ende Exkurs.

Vielleicht sind auch wir so ein Räuberwesen auf unserer Erde wie das aktuelle Virus. Wir zerstören unsere Wirtin, bis die Menschen-Kurve wieder runtersaust. Oder schaffen wir es – wie bei der Infektion –, den exponentiellen Faktor herunterzuziehen, und aus dem Berg einen Hügel zu machen, dass die Erde wieder eine Chance bekommt, uns eine Chance zu geben? Dann wäre der Virus ein Teil unserer Rettung. Davon erzählt das Gedicht. Ich wage, es hier zu veröffentlichen, es möge auch bei uns viral gehen.

… und die Menschen blieben zu Hause.

«Sie lasen Bücher und hörten einander wieder zu, sie erholten sich und widmeten sich der Kunst, spielten Spiele und lernten neue Wege kennen, um sich selbst zu begegnen und in der Stille zu sein.

Sie hörten einander zum ersten Mal richtig zu, manche meditierten, andere beteten, einige tanzten. Manche begegneten ihrem Schatten. Und die Menschen fingen an, anders zu denken. Sie wurden gesund. Und als die Menschen nicht mehr herzlos, ignorant und ohne Verstand lebten,begann auch die Erde zu heilen.

«Und als die Gefahr vorüber war, und die Menschen wieder zusammenfanden, als sie getrauert hatten und neue Entscheidungen trafen, eine neue Vision hatten, neue Wege betraten, heilte auch die Erde in dem Mass, wie sie selbst geheilt waren.» Kitty O’Meara

Zur Publikation/Kolumne in der Südostschweiz (PDF-Donwload >>>)

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