Scharanser Zwischenruf

Ein Toast auf die Idioten

Scharanser Zwischenrufe
Einen Toast auf die Idioten
Linard Bardill

Vom Weisheitsgewinn durch Corona

 

Vor Kurzem war die Impfung die Rettung vor dem Virus. Momentan hilft sie nur noch gegen einen schweren Verlauf. Lange galt die Immunität aufgrund der durchgemachten Krankheit nichts, momentan gilt sie als die stabilste. Lange hiess es, es werde nie einen Impfzwang geben, heute ist er in gewissen Ländern Realität. Mitten im Sturm ist es schwierig, den Überblick zu behalten und so halten wir uns an Eingemachtes, an Gefühle, an Glaubenssätze, an Verkündetes, auch wenn dessen Inhalt sich ständig ändert oder ändern müsste. «Es ist, als ob das Virus mit seiner Unlogik uns spottend vor sich hertreibt.» schreibt Daniela Dahn in einem klugen Essay zur Pandemie. Während die einen die Serie der floppenden Lösungen vorantreiben, stehen die andern kopfschüttelnd am Rand des Geschehens und versuchen, nicht unter die Räder zu kommen. 

Da die Verwirrung unser Dauerzustand geworden ist, sind wir geneigt, statt die Verwirrung einzugestehen, Schuldige zu bezeichnen. Loriots oft zitierter Satz, dass in Krisenzeiten Intelligente nach Lösungen, Idioten nach Schuldigen suchen, stammt nicht von Loriot, doch er passt immer besser zur gegenwärtigen Lage. 

 Denn wir sind alle zu Idioten geworden. Und zwar im Urteil der jeweils anderen. Die Geimpften im Urteil der Ungeimpften, die Massnahmenkritiker im Urteil der Befürworter, die Narrativgläubigen im Urteil der Ungläubigen. Ein Heer von Idioten! Jeder im Urteil des jeweils anderen. Die italienische Tageszeitung La Republica benannte jüngst den Entscheid von Jugendlichen, sich lieber anstecken als impfen zu lassen, als ultimativen Irrsinn «ultima follia».

Idiot kommt aus dem Griechischen und bedeutet ursprünglich Laie, ein Bürger, der nicht am politischen Geschehen beteiligt ist. Mit der Zeit bekam der Begriff eine abschätzige Bedeutung und im 19. Jahrhundert wurde er zum Begriff für geistige Behinderung.

 Unser Sohn mit Downsyndrom unterscheidet nicht zwischen Geimpften und Ungeimpften, zwischen Politikern und Wissenschaftlern, zwischen Demokratiebesorgten und Gesundheitsbesorgten. Er grüsst alle, wenn sie am Crestabrunnen vorbeiwandern oder -fahren gleichermassen. Er reagiert auf Freundlichkeit mit Freundlichkeit auf Zuwendung mit Zuwendung. Und er hat für jeden ein gutes Wort. Kann auch mal ein Nein sein, wenn ihm jemand zu nahekommt. Heute würde keiner mehr das Wort Idiot in den Mund nehmen, wenn er Liun sieht. Vielleicht haben wir als Gesellschaft erkannt, dass in diesen Menschen eine Art Wissen steckt, von dem wir Normalos nur träumen können. 

Ich würde mich gern als Idiot outen, einer, der nicht verurteilt, einer der alle gleichermassen grüsst, einer, der sich für das Wesentliche interessiert, einer, der das Werden, Sein und vergehen gelassen nimmt, einer der sich freut, wenn ihn die Katze mit der Nase anstupst, einer, der weint, wenn die Katze gestorben ist. 

Wir leben nicht von den Urteilen, und schon gar nicht von den Verurteilungen, zu denen wir uns durch unser Wissen und Besserwissen befähigt fühlen. Im Menschsein liegt mehr als die Frucht der Erkenntnis zwischen Gut und Böse, richtig und falsch, geimpft oder ungeimpft. In uns liegt das Paradies. Der Garten der Lust und die Geschmeidigkeit eines Kindes. Oder genauer: Wir sind das Paradies, jeder von uns. Dieses in sich und im andern zu erkennen ist wahre Weisheit. 

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