Scharanser Zwischenrufe • Kolumne vom 24. April 2020

Eine Milliarde Schweine: Über die Chancen der Pandemie II

Der Widerstand der globalen Fleischindustrie ist gewaltig. Wogegen? Gegen das Aufdecken der Auswirkung unserer Massentierproduktion. Letztes Jahr wurden eine Milliarde Schweine geschlachtet. Pro acht Erdenbewohner ein Schwein. Und dann noch fast so viel Geflügel und dann noch halb so viel Rinder. Gefüttert wurden die Tiere mit Soja, Mais, Weizen und anderenLebensmitteln, mit denen man zwei bis drei Milliarden Menschen ernähren könnte.

«Sind Sie Vegetarier?», schallt es mir nach der Erwähnung dieser Tatsachen meist genervt entgegen. «Nein, ich versuche grade mit Verstand zu essen.» Dann entzünden sich heisse Diskussionen über veganen Faschismus, flexitarische Glaubwürdigkeit und die Chinesen, sowieso die Schlimmsten.

Heute haben wir Pandemie, und ich will nicht noch mehr schlechte Nachrichten bringen. Warum nicht etwas Aufgestelltes? Zum Beispiel: Die Evolène-Rinder von Lukas und Fabienne Buchli in Scharans, die sehr glücklich sind und deren Fleisch vorzüglich schmeckt. Einmal in der Woche glückliches Rind? Wäre das positiv?

Oder: Eine Milliarde Schweine haben auf den Alpen nicht Platz. Aber ein- bis zweimal im Monat Schweinefleisch von Schweinen, die nicht gefoltert, sondern liebevoll aufge-zogen wurden, würden doch ausreichen, um den Bedarf an Vitamin B12 zu decken.

Die Produktion von Fleisch ist weltweit einer der grossen Klimakiller. Und das Leid der Tiere in den Massenzucht-Ställen schreit zum Himmel. Das kann man bei der Böll-stiftung (Fleischatlas 2018 – Rezepte für eine bessere Tierhaltung) nachlesen.

Da werden kluge Fragen beantwortet: Was hat das Schnitzel auf unserem Teller mit dem Regenwald im Amazonas zu tun? Und wie hängt es mit ländlicher Armut und Hunger in Kamerun zusammen? Wie werden die Tiere, die wir essen, gehalten und welche Auswirkungen genau hat die Massentierhaltung auf unser Klima? Der Fleischatlas sagt aber auch, wie und was wir alle ändern können. Wir, die Bauern, die Wähler, die Politik, und Sie und ich, die wir Esser sind und Esserinnen. Das ist grossartig.

Nun, jetzt haben wir Pandemie und kaum jemand interessiert sich in so einer Notsituation, wie wir die unendlich grössere Herausforderung, ein neues Klimaregime, in den nächsten 10 bis 30 Jahren managen wollen. Im Moment wissen wir nur ganz sicher, dass wir ganz sicher nichts sicher wissen.

Könnten wir unsere Zeit noch anders nützen? Wenigstens diejenigen, die noch im Lockdown sitzen. Könnten wir uns überlegen, wie wir weiterfahren, oder genauer, wie wir diese Menschheitskurve kriegen wollen?

30 Prozent der Regenwürmer sind vom Aussterben begriffen. In der Schweiz! Nicht nur die Gorillas in Borneo, nein, die Bienen und die Singvögel und die Schmetterlinge, unsere Freunde, unsere Partner, unsere Erde. Jetzt hätten wir kurz Zeit für die Zukunft! Jeder Einzelne. Mit dem Entscheid, wie es nach dieser Krise weitergehen soll:

Mit den mobilen Dreckschleudern, unseren heiligen Kühen, mit unserer Modernisierungs-Utopie, welche mindestens neun Erden benötigt. Wie weiter mit den globalen Bossen, die schon lange nicht mehr glauben, dass es für alle reicht. Und mit unserem Alltag, in dem wir bestimmen, wie es läuft: zum Beispiel mit der Wahl dessen, was uns auf den Teller kommt.

Zur publizierten Kolumne in der Südostschweiz (PDF-Download >>>)

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