Scharanser Zwischenrufe • Kolumne vom 20. Mai 2020

Einladung zur Extase

Ich bin umzingelt von Leuten, die Beschneid wissen. Über den Bundesrat. Über die Demokratie. Über Bill Gates. Über die Ansteckungsgefahr von Kindern. Über die DNA-Analysen des sich ständig mutierenden Virus und die Hoffnungslosigkeit überhaupt einen Impfstoff zu finden.

Und sie wissen alle Bescheid über die Finanzen, die Wirtschaft, die Auswirkungen. Sie wissen, dass (fast) alles völlig sinnlos war und was man sicher nicht mehr machen darf.

Mein Problem ist nur, dass jeder etwas anderes weiss und jeder es ganz genau weiss und glaubt und laut weiss und noch laute zu argumentieren beginnt, sobald ich im Gespräch Wissen und Glaubenssätze von anderen Genauwissern einbringe.

Was bei mir vor lauter Informationen, Youtubefilmchen und Nzz Artikeln auf der Strecke zu bleiben droht, ist die Gelassenheit, das Vertrauen, Humor und Standfestigkeit, die Liebe zu den Menschen und Tieren, zur Erde und überhaupt:

Wie geht es ihnen? Spüren sie auch so eine innere Dimension dieser Krankheit, obwohl sie vielleicht nicht erkrankt sind, ja eventuell nicht einmal jemanden kennen, der daran erkrankt ist. Eine innere Unsicherheit, eine Leere, eine Einsamkeit, die sich trotz des langsam sich wieder etwas normalisierenden Alltags noch immer tief in den Knochen steckt?

Bei mir gibt es diesen Bruch, den die Pandemie in unser Leben gerissen hat und ich brauche recht viel Kraft, mich nicht hinunterziehen zu lassen, zu den Demokratieverlustkobolden, zu den Untergangsdämonen, und den Verschwörungstoggis, die mir den Blick auf den langsam schneefrei werdenden Beverin, den unbändig pfeifenden, blühenden Frühsommer verstellen und mich so merkwürdig haben werden lassen, dass ich mich nicht mehr getraue im Laden jemanden anzusehen.

«Haben sie einen 10er» fragte mich eine Frau in der Tiefgarage vor dem Parkautomat. Wow, ich hätte ihr auf der Stelle eine Zehner Note gegeben. Doch sie lächelte mich auch für 10 Rappen an.

«Seien sie unbesorgt, die Wende kommt», höre ich mich sagen und sie nickte mir augenzwinkernd zu. Wenn ich nicht glücklich verheiratet wäre, ich hätte sie auf der Stelle aufs Standesamt geschleppt.

Apropos Glück. Können sie sich vorstellen, dass Glück ganz wenig mit Material zu tun hat? Wir, die wir uns täglich und wacker schlagen in der Schlacht um den Materialoverkill, können jetzt vielleicht gewahr werden, dass ein Lächeln mehr Glück sein kann, als ein neuer Lamborghini.

Da wäre vielleicht der archimedische Punkt, mit dem wir die Welt aus den Angeln heben. Dort wäre vielleicht die ganze wilde Fahrt in den Abgrund zu stoppen, oder zu drehen. Die Räuberbrut des Homo Sapiens , die plötzlich inne wird, wenn sie ein neues Ideal, eine neue Vision vor ihr äusseres und inneres Auge bekommt …

Ungeachtet der 1000 Artikel, Verschwörungsfilmen, Predigten und FB-Einträge, ungeachtet der Ängste und Panik vor Impfschäden und übelsten Zukunftsszenarien: Werfen wir uns den Wolken zum Frass vor! Noch fliegen die ungestüm sanften Schwestern ungetrübt von Kondensstreifen über den leeren Himmel und spielen täglich ihre Stratosphärensynfonie an den Hängen unserer Berge und Hügel.

Seien sie unbesorgt, die Wende kommt! In unseren Herzen, in unseren Köpfen, in unserem Leib, denn wenn sie dort nicht kommt, wird sie nirgends kommen.

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