Etwas federn und dann gehen – Sterben für Anfänger

22. Juli 2016, Von Linard Bardill


Du willst wissen, was ich mir wünsche wenn ich sterbe
Den Schlag der Stunde hören und verstehen
Ich will nicht kleben an dem Leben und mit Lust 

Aufs Sprungbrett steigen etwas federn und dann gehen


Am Leben bleiben bedeutet, lebendig sein. Jetzt in meinem Körper, in meiner Existenz. Als Mann, im 21. Jahrhundert, in der kleinen Schweiz, in den Bergen, beim Singen eines meiner Lieder am Bett eines Kindes, das angeblich nur noch Tage, vielleicht nur noch Stunden zu leben hat. Aber das hat keine Bedeutung. Denn Lara schaut mich an. Von unten. So gut sie es schafft, ihren Kopf gerade zu halten. Mit Schalk hinter der Brille und Freude, ohne Einschränkung. Wenn ich die Augen schließe und das Lied vom Brunnen singe, auf dem ein Zauberlicht brennt, dann sehe ich nicht nur den Stern, der sich im Lied auf dem Brunnen spiegelt, ich sehe eine Sonne, die vom Kind durch meine Augenlider strahlt. Nichts von Tod, nichts von noch 2-3 Tage, nichts von: die Ärzte haben das Kind aufgegeben. Da ist nur Lara, die lacht und strahlt und ihre Mutter, die das ganze Zimmer mit Schmetterlingen tapeziert hat. Lara ist in diesem Moment unsterblich, das sehe ich mit geschlossenen Augen.

Den Tod ist kein Ereignis des Lebens

Gestorben sein bedeutet, nicht da sein, wo ich jetzt bin. Irgendwo sein. Da, wo ich jetzt nicht bin. Den Übergang nennt man Tod. Aber Tod ist nicht erlebbar. So wie es keine Geburt gibt. Es gibt nur auf die Welt kommen. Oder auf die Welt bringen. Dieses Bringen und Kommen habe ich bei meinen Kindern jedes Mal als einen heiligen Moment erfahren. Die Welt scheint ein „Nu“ lang stehen zu bleiben. Und dann der erste Blick. Und die Frage: Bist du für mich da? JA! Da werden Verträge ohne Papier und Schreibzeug geschlossen im Nu! Das Wort Geburt ist der sprachliche Behelf etwas festzulegen, das nur im Prozess verständlich ist. So ist es mit dem Tod. Das Wort benennt Endgültigkeit. Doch es gibt nichts Endgültiges in diesem Universum. Es ist alles im Fluss. Und der Augenblick ist ewig. Der letzte Blick, dieses Auflösen aller Verträge. Das Loslassen. Mein Nachbar, der schon so lange auf dem Krankenbett lag. Seine Frau, die mich ins Spital bat. Das Halten der Hände. Der Zuspruch: Es ist alles gut. Der letzte Blick, der letzte Atemzug. Loslassen. Aufmachen. Auch dieses „Nu“ empfinde ich jedes Mal als heilig. Ob ein Mensch in die Welt kommt oder ob er von ihr geht. Da ist nicht Geburt und nicht Tod. Da ist nur „Nu“. Es gibt keine Endgültigkeit es gibt nur Übergänge. Diese Übergänge werden durch die Sprache festgesetzt und erheischen Endgültigkeit. Aber welches Ende sollte da gültig sein. Wir, die auf dieser Daseinsebene zurückbleiben, brauchen diese Gewissheit. Denn wir, die Da-Seienden kennen nicht, was nach dem Übergang ist. Darum erscheint uns das Ende der Gegangenen so gültig.

Bettkantenkonzerte


Ich möchte springen wie ein Frosch von seinem Rosenblatt
Mit Augen auf und Armen weit ein Satz 

Und sag dann nicht ich solle bleiben 

Sei einfach bei mir und wenn’s Zeit wird 



Lass mich gehen amigo lass mich gehen

Ich bekam die Anfrage, ob ich bereit wäre, einem Kind, das nicht mehr lange zu leben hätte, ein Lied zu singen: „7 kugelrundi Söi“, zu hören sei ihr größter Wunsch. Die ganze Familie kam vor dem regulären Konzert in die Garderobe. Es schien, als ob das Kind in eine schützende Watte aus Licht und Liebe gebettet wäre. Es konnte seine Situation mit dem Verstand bestimmt nicht erfassen, aber um sie herum nahm ich eine Umgebung wahr, die mich bis ins Mark erschütterte. Aus dem einen Lied wurden viele und das offizielle Konzert verschob sich um eine halbe Stunde. Das kleine Mädchen starb ein paar Wochen später und ich träumte von ihr, sah, wie sie auf einer roten Blume lag und sich wünschte, dass ich noch für viele andere Kinder sänge, die es schwer hätten.

Ich rief einen befreundeten Arzt im Kinderspital Zürich an. Er verband mich mit dem Chef der Onkologie. Der war begeistert von der Idee. Er lud mich auf seine Abteilung ein und als Stiftungspräsident der „Kinderhilfe Sternschnuppe“ fädelte er gleich noch eine Zusammenarbeit mit der Stiftung ein. Mit einem einzigen Telefon kam zustande, was ich heute noch – neben meinen Kursen und Konzerten – mit Leib und Seele gerne tue: Bettkantenkonzerte für kranke Kinder in den verschiedensten Schweizer Kinderspitälern.

Menschen, wollt ihr ewig leben?

In der Schweiz beziehen die Menschen im Durchschnitt 80% ihres Krankenkassengeldes im letzten Lebensjahr. Die Endgültigkeit schreckt so sehr, dass wir alles tun, um ihn hinauszuschieben, diesen Checkpoint, diesen unweigerlich unerbittlich sich nahenden Übergang. Während in meine Jugend niemand über das Sterben reden wollte, hat sich dieses Tabu heute allerdings etwas aufgeweicht. Die Hospizbewegung, die Palliativcare, die Begleitung betagter Menschen zu Hause und die Sterbebegleitung durch Laien und Profis erleben eine neue Aufmerksamkeit. Das Sterben ist nicht mehr ganz so totgeschwiegen wie vor 50 Jahren. Aber das, was da drüben hinter dem Übergang kommt, darüber spricht kaum einer.


Ich bin das Kind auf deinem Kirschbaum und will springen
Und wer mich auffängt unten siehst du nicht

Und musst du weinen bitte wein und willst du singen
Dann sing ich bis der Morgen anbricht mit


An meinem Kurs „Sterben für Anfänger“, üben wir mit den TeilnehmerInnen das Loslassen. Prozessorientiert, meditierend, singend und tanzend gehen wir den grossen und kleinen Fragen des Sterbenlernens nach. Wir üben das Loslassen unserer trügerischen Sicherheiten, im Materiellen, im Seelischen, im Geistigen. Lernen die 3 dreisten Lügen des Geldes kennen. Legen fremde Rucksäcke ab. Hinterfragen Bilder, die uns andere eingepflanzt und die uns den Weg in die Freiheit verbauen. Denn in unserem Geist sind alle Möglichkeiten real. Wer verbietet da wem was? Welche Möglichkeiten zieht mein Ich in die Wirklichkeit? Wie entsteht Glaube, in einer Zeit, in der wir mit Sätzen geschlagen sind wie: „Worüber man nicht reden kann, soll man schweigen.“? Gibt es Trost in einer trostlosen Zeit? Freiheit sei nur im Modus der Bestimmung zu haben und Bestimmung nur im Modus der Freiheit zu ergreifen, sagt der deutsche Philosoph Friederich Schelling, dessen Grab in der Schweiz in Bad Ragaz liegt und den ich ab und zu besuche. Kann man Verstorbene besuchen? Oder besuchen sie uns? Was ist mit den eigenen Erfahrungen? Was bedeutet Aufklärung heute? Gibt es Beweise für ein Sein nach dem Sterben? Warum finden Menschen mit einem Nahtoderlebnissen so schwer zurück in ihr altes Leben? Warum sagen Piloten – nach Auswertung der Flugschreiber abgestürzter Flugzeuge – als letzte Worte mehrheitlich „Scheiße“. Und was sagte Mahatma Gandhi als letztes Wort, als er von einem Attentäter tödlich getroffen wurde? Was ist Trauer, wie begleite ich Menschen ins Sterben und wie stellten sich die Menschen früher ein Leben nach dem Sterben vor?

Eine kurze Geschichte des abendländischen Jenseits

In meiner Ausbildung zum Theologen lernte ich die katholische und die evangelische Jenseitsvorstellung kennen. Dantes Inferno und Luthers: „lasst die Toten ihre Toten begraben“, waren mir präsent. Doch ich wollte mehr wissen. Beschäftigte mich mit den Äqyptern und den Tibetern, der Pistis Sophia, dem Totenbuch der Gnosis, Homer und den Psalmen der Bibel. Dabei machte ich eine für mich folgenschwere Entdeckung: Zusammengefasst könnte man sagen, dass die alten Griechen und Juden, die Germanen und viele andere Völker im Jenseits eine kalte Hel, eine triste Scheol, einen grauen Hades vermuteten, ein Unort, wo die Menschen Gespenster sind und als Schatten ohne Gedächtnis dahinvegetieren. Das Argument, die Menschen hätten sich das Jenseits aus Angst vor der Sterblichkeit geschaffen, wird angesichts dieser Tristesse obsolet. Nachtodliches Grauen also. Außer: Die Einweihung in ein Mysterium konnte die Mysten (Eingeweihten) zur Insel der Seligen bringen. Diese Einweihung war geheim und bis in die ausgehende Antike nur einer kleinen Elite vorbehalten. Persephone in Eleusis, Osiris in Dendera, Attis und Kybele in Kleinasien und wie die Kultstätten und Göttersöhne/töchter alle hiessen, mit denen man im Einweihungsritual symbolisch starb und wieder auferstand. Erst das Christentum brach mit der Arkandisziplin, der Todesdrohung beim Verraten des Mysteriums. Mit Christus stirbt der Täufling in der Taufe und indem er aus dem Wasser gehoben wird, aufersteht er zum ewigen Leben. Das durfte jeder wissen. Die Zeit der Geheimniskrämerei war vorbei.

Die Zeit für kollektive Antworten war vorbei

Mit der Theologie und dem Christentum brach ich, als ich jung war. Kaum hatte ich mein Studium abgeschlossen, vertauschte ich die Kanzel mit der Straße. Machte Musik auf Gassen und Plätzen und verkaufte meine Gedichte. Es schien mir die Zeit für kollektive Antworten vorbei zu sein. Dieser Gott der Kirche war nicht mehr meiner. Und einen neuen hatte ich noch nicht gefunden. Es brach die Gottesnacht über mich herein.


Doch wenn die Sonne kommt dann lass mich gehen 

Ich fliege mit dem Morgenstern durchs grosse Tor 

Ein kurzes Glitzern noch und dann sind wir verschwunden
Im blauen Himmel und dein Herz wird weit und gross


Jahrtausende lang waren die Vorstellungen über das Jenseits gemeinsam implementiert und genährt worden: tibetisch, vedisch oder ägyptisch, jüdisch, katholisch oder evangelisch. Die kollektiven Bilder und Erzählungen, die das Abendland, das Christentum bestimmt hatten, wurde im Laufe der letzten 500 Jahre durch die Renaissance, die Aufklärung, den Materialismus und den Nihilismus des 19. Jahrhunderts immer mehr in Frage gestellt und vernichtet. Descartes „cogito ergo sum“, Kants „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkleit“, Nietzsches „Gott ist tot“ hat den Glauben an Gott, das Vertrauen auf die Erlösung des Menschen durch einen Gottessohn und die Hoffnung an ein Leben im Jenseits bis heute in den Grundfesten erschüttert. Mir war trotz des Studiums nicht wirklich bewusst geworden, dass ich nicht der einzige war, der in diese Gottesnacht gefallen war.

Lass mich gehen

Nun, da ich selber die Erfahrung der untergegangenen Sonne, der Nacht gemacht hatte, verstand ich erst, was mit der ganzen abendländischen Menschheit geschehen war. Wo stehe ich heute, da die kollektiven Vorstellungen für mich nicht mehr tragfähig sind? Es bleibt die Möglichkeit in der Negation von Glauben, Hoffnung und Herzenswissen im Nihilismus oder Atheismus zu verharren. Und daraus selbst wieder einen Glauben zu zimmern. Nach dem Schweizer Bundesamt für Statistik Bfs sind die Mehrheit der Schweizer – was das Leben nach dem Tode angeht – Agnostiker. Agnostizismus bedeutet, dass man nichts wissen kann.

Durch meine Begegnung mit Kindern und Alten, die in der letzten Phase ihres Lebens stehen, habe ich für mich einen anderen Weg entdeckt. Es ist die Erfahrung der Unsterblichkeit von Kindern wie Lara, oder meines Nachbarn, oder meiner eigenen Kinder, unsterblich im Nu des Daseins, des Übergangs, des Werdens und Vergehens.

Es gibt für mich die Möglichkeit der Hinwendung zur eigenen Erfahrung und das in Anspruch Nehmen der Deutungshoheit dieser Erfahrung. Hier beginnt mein spiritueller Weg. Die Erfahrung, die heißt: Das Leben und das Sterben, das in die Welt treten und aus der Welt hinausgehen, kann im Nu – in der Hingabe an den Moment – erlebt werden. Diese Erfahrung formt meinen Glauben – zunächst einmal ohne die alten Bilder der aus der Antike stammenden Religionen und Weisheitslehren. Abgelegt aber habe ich inzwischen auch die Verzweiflung und das Verstummen der Moderne. Mein Weg wird im

Gehen. Mein Lied singt sich im Sonnen – Antlitz von Lara, die schon immer ein Engel war.

Nun weißt du, was ich wünsche, wenn ich sterbe
Den Schlag der Stunde hören und verstehen
Ich will nicht kleben an dem Leben und mit Lust
 
aufs Sprungbrett steigen etwas federn noch mal federn und dann 
gehen
Oh, lass mich gehen, amigo, lass mich gehen ...


Photo
Zurück zur Übersicht